BMJ: Vorschlag für ein Jugendstrafvollzugsgesetz
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte am 31. Mai 2006 über die Klage eines im Jugendstrafvollzug einsitzenden Strafgefangenen entschieden und festgestellt, dass es aus Verfassungsgründen einer spezifischen Rechtsgrundlage für den Jugendstrafvollzug bedarf. Zugleich hat das Gericht dem Gesetzgeber eine Frist bis Ende 2007 gesetzt, um ein entsprechendes Gesetz zu erlassen. Bereits in der Vergangenheit hatte es mehrfach Anläufe des Bundes gegeben, den Jugendstrafvollzug gesetzlich zu regeln.
Die Vorschläge scheiterten bislang am Widerstand der Bundesländer. Deren Kritik richtete sich dabei vor allem auf die Kosten verursachenden Regelungen zur Einführung von Mindeststandards und Qualitätssicherung, die sich nun weitgehend in den Karlsruher Vorgaben wieder finden.
„Das Bundesverfassungsgericht hat unsere Rechtsauffassung bestätigt, dass wir ein Jugendstrafvollzugsgesetz brauchen, das auf die spezifischen Bedürfnissen junger Strafgefangener zugeschnitten ist. Insbesondere haben die Karlsruher Richter unterstrichen, dass ein verfassungskonformer Jugendstrafvollzug inhaltlich so ausgestaltet sein muss, dass er die bestmögliche Gewähr für ein straffreies Leben in Freiheit nach Verbüßung der Haft bietet. Das Gericht hat dem Gesetzgeber eine knappe Frist gesetzt, um den Jugendstrafvollzug auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Deshalb muss jetzt eine breite Debatte auch mit der Wissenschaft und der Praxis geführt werden, damit der Gesetzgeber – ungeachtet dessen, ob nach Abschluss der Föderalismusreform Bund oder Länder für die Verabschiedung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes zuständig sein werden – dann zügig handeln kann “, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in Berlin bei der Vorstellung ihres Entwurfs.
I. Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung / Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
In seinem Urteil vom 31. Mai 2006 hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgehalten, dass der Jugendstrafvollzug aus Verfassungsgründen einer gesetzlichen Grundlage bedarf und zugleich Vorgaben für seine inhaltliche Ausgestaltung gemacht. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um folgende Maßgaben:
1.
Die inhaltliche Ausgestaltung des Strafvollzuges für jugendliche / heranwachsende Straftäter unterliegt besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen. So bedarf es gesetzlicher Grundlagen, die auf die besonderen Anforderungen des Vollzuges von Strafen an Jugendlichen / Heranwachsenden zugeschnitten sind, weil sie sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs befinden, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten verbunden ist. Für das Jugendstrafrecht und den Jugendstrafvollzug gewinnt daher der Grundsatz besondere Bedeutung, dass Strafe nur als letztes Mittel und nur als ein in seinen negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen nach Möglichkeit zu minimierendes Übel verhängt und vollzogen werden darf.
2.
Das Vollzugsziel der sozialen Integration, also der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit, hat Verfassungsrang. Dies beruht darauf, dass nur ein solchermaßen ausgerichteter Vollzug der staatlichen Pflicht zur Achtung der Menschenwürde des Einzelnen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens entspricht.
3.
Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz.
4.
Der Staat übernimmt durch den Freiheitsentzug für die weitere Entwicklung der Gefangenen eine besondere Verantwortung, der er nur durch eine Vollzugsgestaltung gerecht werden kann, die in besonderer Weise auf Förderung (soziales Lernen, Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen) gerichtet ist.
5.
Aus den jugendtypischen Wirkungen der Haft, insbesondere der besonderen Haftempfindlichkeit junger Menschen, den besonderen Chancen und Gefahren für die weitere Entwicklung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich spezieller Regelungsbedarf im Hinblick auf:
a) die Bedeutung der Familienbeziehungen und die Möglichkeit diese aus der Haft heraus zu pflegen (Besuchsmöglichkeiten müssen ein Mehrfaches über dem der Erwachsenen liegen),
b) die Möglichkeiten zur körperliche Bewegung,
c) die Art der Sanktionierung von Pflichtverstößen,
d) Vorkehrungen zum Aufbau und nicht unnötiger Beschränkung von Kontakten innerhalb der Anstalt, die positivem sozialen Lernen dienen können,
e) Vorkehrungen zum Schutz vor wechselseitigen Übergriffen der Gefangenen,
f) Unterbringung in kleineren Wohngruppen differenziert nach Alter, Strafzeit, Straftaten, gesonderte Unterbringung von Gewalt-/Sexualstraftätern mit besonderen Betreuungsmöglichkeiten,
g) konkrete Vorgaben zur erforderlichen Ausstattung mit personellen und finanziellen Mitteln, insbesondere:
– Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, die auch bei kurzer Haft sinnvoll genutzt werden können,
– Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen und Schutz der Inhaftierten vor einander ermöglichen,
– ausreichende pädagogische und therapeutische Betreuung,
– eine mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnte Entlassungsvorbereitung.
7.
Verpflichtung des Gesetzgebers zur Entwicklung eines wirksamen Resozialisierungskonzepts, das auf Erfahrungswissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen einschließlich der Beachtung internationaler Standards beruht.
8.
Beobachtung und Nachbesserung der gesetzlichen Bestimmungen aufgrund vergleichender empirischer Forschung.
9.
Jugendgerechte Neuregelung des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen im Vollzug mit Möglichkeit mündlicher Kommunikation.
II. Regelungsvorschlag des Bundesministeriums der Justiz
Der vom Bundesministerium der Justiz auf der Basis der Fachdiskussionen in den vergangenen Jahren ausformulierte Vorschlag entspricht den verfassungsrichterlichen Vorgaben:
a) Zielsetzung des Vorschlag
Leitgedanke des Vorschlags ist das Prinzip „Fordern und Fördern“. Der Vorschlag regelt deshalb zunächst einmal die Rechte und Pflichten der Insassen in Jugendstrafanstalten, aber auch die Eingriffsbefugnisse und Leistungspflichten der Vollzugsbehörden.
Festgeschriebenes Ziel des Jugendstrafvollzugs ist es, dass die jungen Gefangenen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung so gefördert werden, dass sie künftig ein Leben ohne Straftaten führen. Denn nur, wenn die Täter nicht wieder rückfällig werden, wird ein größtmöglicher, dauerhafter Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten erreicht. Die Veränderung bei den Gefangenen soll durch eine umfassende und intensive Auseinandersetzung der Gefangenen mit ihrem eigenen sozialschädlichen Verhalten, mit der Straftat selber und den Konflikten, aus denen heraus die Tat begangen wurde oder mögliche neue Taten begangen werden, aber auch durch im Vollzug bereitgestellte Förderangebote erreicht werden.
Der Vorschlag nimmt Vorschläge und Tendenzen der Fachöffentlichkeit aus den letzten Jahren zum Jugendkriminalrecht auf. Dies gilt nicht nur für die einzelnen Regelungen über die Rechte und Pflichten der Gefangenen, sondern insbesondere auch für das Vollzugsziel und die Ausgestaltung des Vollzuges. Der Vorschlag beschränkt sich auf die Regelungen, die der Gesetzgeber selbst treffen muss. Den mit der Durchführung des Vollzuges betrauten Jugendstrafanstalten verbleibt ein weitgehender Handlungsspielraum, um die vorgegebene Rahmenkonzeption umzusetzen. Damit verfügen die Vollzugsbehörden über die notwendige Flexibilität, auf die besonderen Verhältnisse und Probleme in den einzelnen Anstalten und Einrichtungen einzugehen, unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen und vorhandene inhaltliche Konzepte fortzuentwickeln.
b) Inhalt des Vorschlag im Einzelnen
1. Pflichten der Gefangenen
Der Jugendstrafvollzug verlangt nach dem Konzept des BMJ von den Gefangenen eine umfassende aktive Mitarbeit. Da eine freiwillige und auf Einsichtigkeit beruhende Kooperation der Gefangenen nicht von vornherein zu erwarten ist, sollen die Gefangenen zur Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels verpflichtet sein, d.h. sie müssen Vollzugsangebote annehmen, sich für bestimmte Fördermaßnahmen entscheiden und an den im Förderplan festgeschriebenen Fördermaßnahmen aktiv teilnehmen.
Der Vorschlag enthält einen Grundkatalog von Pflichten für die Gefangenen. Gleichzeitig gibt er den Vollzugsbehörden die notwendigen Befugnisse an die Hand, um diese Pflichten durchzusetzen.
Die Vollzugsbediensteten setzen den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gefangenen bewegen dürfen:
* Die Gefangenen müssen den Entzug der Freiheit dulden. Entweichungen oder Entweichungsversuche werden disziplinarisch geahndet.
* Genau wie bei einem Leben in Freiheit müssen die Gefangenen während der anstaltsintern festgelegten Arbeitszeit der ihnen zugewiesenen, bezahlten Aufgabe nachgehen.
* Die Gefangenen bekommen Vorgaben zur Tageseinteilung in der Anstalt (Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit), sie dürfen ihnen zugewiesene Bereiche nicht ohne Erlaubnis verlassen.
* Sie müssen sich in der Vollzugsanstalt eingliedern und dürfen durch ihr Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben in der Anstalt nicht stören.
* Sie haben ihre Hafträume und die ihnen überlassenen Sachen in Ordnung zu halten und schonend zu behandeln, und nur Sachen in Gewahrsam haben, die ihnen von der Vollzugsbehörde oder mit ihrer Zustimmung überlassen werden.
* Die Gefangenen werden gesundheitlich untersucht und müssen dann die notwendigen Maßnahmen zu ihrem eigenen Schutz unterstützen.
Weitere Pflichten können sich aus der Hausordnung ergeben oder durch Einzelweisung erfolgen. Das Ausmaß und der Umfang der Mitwirkungspflicht orientieren sich am einzelnen Gefangenen und daran, was er an Unterstützung braucht, um Eigenverantwortung zu entwickeln.
2. Ausgestaltung des Vollzuges
Um bestmögliche Rahmenbedingungen für ein künftig straffreies Leben der jungen Straftäter zu schaffen, sieht der Vorschlag des BMJ ausdrücklich folgendes vor:
* Festlegung von qualitativen Mindeststandards für die Förderung der jungen Gefangenen unter sachlichen, personellen und organisatorischen Gesichtspunkten:
* die Ausgestaltung des Vollzuges mit jugendspezifischen Inhalten, insbesondere den Vorrang von schulischer Bildung, beruflicher Qualifikation und arbeitspädagogischer Angebote vor Zuweisung von Arbeit,
* Schul- und Ausbildungsplätze für mindestens zwei Drittel der Haftplätze
* 4 Stunden Besuch/Monat, 2x/Monat zusätzl. Langzeitbesuch für Kinder der Gef.
* Einzelunterbringung bei Nacht
* Eigene Schulabteilungen
* Angemessene Ausstattung mit pädagogisch qualifiziertem Personal sowie Fortbildung und Supervision
* Zusammenarbeit und Vernetzung mit fachbezogenen außervollzuglichen Einrichtungen auch zur Vorbereitung der Entlassung und Nachsorge,
* die Möglichkeit von Sozialtherapie im Jugendstrafvollzug,
* die Möglichkeit von Unterbringung in Wohngruppen mit bis zu 8 Gefangenen, um ein Leben in strukturierten Tagesabläufen und soziales Verhalten einzuüben
* eigene Wohngruppen für die 14- bis 15-jährigen jungen Gefangenen,
* Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen und Bedürfnisse junger weiblicher Gefangener,
* Nachrangigkeit von Disziplinarmaßnahmen hinter ausgleichenden Konfliktlösungen,
* Nachsorge auch durch die Bewährungshilfe, die bereits während des Vollzuges bestellt wird
* die Möglichkeit der Gewährung von Langzeiturlaub zur Vorbereitung der Entlassung
* Übergangshäuser sollen als Schnittstelle zwischen Vollzug und Freiheit dienen können
* begleitende kriminologische Forschung wird obligatorisch
3. Rechtsweg gegen Maßnahmen im Vollzug
Die Rechtsbehelfe gegen Maßnahmen der Anstaltsleitung sollen entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts neu geregelt werden. Bislang mussten sich die Gefangenen mit ihren Rechtsbeschwerden schriftlich an die räumlich oft weit entfernten Oberlandesgerichte wenden. Diese Hürden hat das Bundesverfassungsgericht als zu hoch erachtet. Nach dem heute vorgelegten Vorschlag können sich die Gefangenen künftig zunächst mit Beschwerden an den Anstaltsleiter wenden. Kommt es dabei nicht zu einer Klärung, entscheidet über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung die Jugendkammer, in deren Bezirk die Jugendhaftanstalt liegt. Diese ist mit Richtern und Richterinnen besetzt, die in der Jugenderziehung erfahren sind. Zwar ist eine mündliche Verhandlung nicht zwingend vorgesehen, ebenso wie im Erwachsenenvollzug die Strafvollstreckungskammer wird jedoch auch die Jugendkammer immer dann eine mündliche Anhörung der Jugendstrafgefangenen durchführen, wenn es sich einen persönlichen Eindruck vom Antragsteller verschaffen will oder dies zur Klärung des Sachverhalts erforderlich ist.
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